Helmut Schiestl . Leseprobe

Wir haben uns im Frühjahr 2024 im Ferdinandeum in Innsbruck kennengelernt. Helmut war gemeinsam mit dem Haller Künstler Hermann Graber an einem Sonntag Nachmittag unterwegs, um sich dem damaligen Bücherausverkauf und der Grafikausstellung zu widmen.

 

Er hat mich etwas in Sachen Lyrik aus Tirol beraten und mir jenes Buch, welches ich in Händen hielt, empfohlen.

 

Da er des Öfteren kulturelle Veranstaltungen besucht, kam es manchmal zu zufälligen Begegnungen, bei denen wir uns gut unterhalten haben.

 

Auch seine Facebook-Beiträge mit Foto und Kommentar, meist zur aktuellen Lage in Innsbruck zur Architektur, Kultur und Politik, habe ich immer wieder gerne mit Daumen hoch bestätigt. Ich glaube es erfreut ihn seine Entdeckungen mit seinem Umfeld zu teilen, auf Dinge hinzuweisen, welche einem gestressten Auge verborgen bleiben und seiner Meinung Ausdruck zu verleihen. Das Recht auf Meinungsfreiheit muss wahrgenommen und immer wieder neu erstritten werden, damit die Welt nicht in Gleichgültigkeit versinkt.

 

 

Helmut Schiestl kam 1954 in Hall in Tirol zur Welt. Als Bibliothekar und Mitarbeiter am Innsbrucker Zeitungsarchiv verbrachte er sein Arbeitsleben überwiegend mit dem geschriebenen Wort.

 

Auch als Schriftsteller bleibt er seiner Berufung treu und veröffentlichte neben den vielen Texten folgende Bücher:

 

  • Porträt des Schriftstellers als armer Wurstel
  • Der Lotosblütenesser
  • Hirnkrebs

 

 

Auf meine Bitte hin bekam ich letztens eine kleine Auswahl seiner Texte zum Lesen und für eine mögliche Veröffentlichung übermittelt.

 

In diesen dreht sich Vieles um das nicht Ausgesprochene oder Gedachte.

Was macht das mit uns, wenn Erwachsene es den Kindern gleich tun und alles gerade heraus aussprechen? Was denken wir den ganzen Tag fort vor uns hin und was sprechen wir wirklich aus?

Als Kind dachte ich eine Zeit lang, dass nur ich die Fähigkeit hätte mit mir selbst zu kommunizieren. Sollten wir als Erwachsene mehr aussprechen, oder vielleicht doch manchmal auch weniger, um der Jugend ein gutes Vorbild zu sein, frage ich mich?

 

 

Hier eine Leseprobe für Euch – viel Spaß am Offensichtlichen!

 

 

Der Splitter im Auge des Betrachters

 

I

Arthur fragte die junge Journalistin, die eben ihren Krebs überwunden hatte, und die vor der Krebstherapie sehr schön gewesen war, wie es ihr jetzt ginge, da die Folgen der Chemotherapie ja nicht zu übersehen seien bei ihr.

„Ja, jetzt bin ich nicht mehr so schön, das weiß ich“, sagte sie darauf.

Und darauf er: sie sei immer noch schön, und werde es vielleicht wieder so, wie sie es früher war.

Aber ein Freund von ihm, hätte neulich gemeint, als er sie sah, dass ihm nur ihre Füße gefallen würden, sonst aber nichts an ihr. Er hatte sie vorher nicht gekannt, hatte also kein Bild von ihr im Kopf von ihrer früheren blühenden Schönheit. Er aber, Arthur, hätte das Bild von ihrer einst blühenden Schönheit noch im Kopf und daher sei sie für ihn noch schön, eben weil er dieses Bild von einst mit dem von jetzt mit dem inzwischen angeschwollenen Gesicht und dem matten kurzen kaum noch nachgewachsenen Haar und den fehlenden Augenbrauen, sehr gut in Übereinstimmung bringen könnte, einfach weil der Kern ihrer Person noch darunter hervorleuchten würde, der Person, die sie gewesen war, als sie noch keinen Krebs gehabt hatte. Und das sei jetzt nicht Mitleid, sondern dass sei einfach das, was er fühle für sie und es sei doch nichts von dem verloren gegangen, nichts von dem, was sie gewesen war. Auch wenn es nicht wiederkomme, worauf sie aber doch insgeheim hoffte, im Gegensatz vielleicht zu ihm. Und er umarmte sie und gab ihr einen Kuss. Und eine Träne kämpfte sich aus seinem Auge und begann über Arthurs Wange zu rollen. Oder war das nur ein Lichtreflex?

 

 

II

Das Stück war schlecht gewesen, und Arthur ärgerte sich darüber. Was hätte man aus den gespielten Szenen nicht alles machen können. Wie sie anlegen. Aber das wäre dann ja ein anderes Stück gewesen, widerrief es in ihm. Aber egal. Es war so wie es war. Eben schlecht, affig, zu wenig durchdacht, ohne Esprit, ohne Witz, ohne Charme, ohne Sex. Die Betriebstemperatur lag immer einige Grad darunter, so dass der Gag nicht zünden konnte. Wie hätte man etwa die Szene mit dem Sarg anlegen können, wie daraus einen wirklichen Knüller! Warum machten die Schauspieler/innen nicht mehr daraus? Warum sprachen sie ihre Texte nur einfach so herunter? War das, weil sie Unentschlossene spielen sollten oder waren sie unentschlossen? Weil sie vom Stück nicht überzeugt waren? Waren sie am Ende unentschlossene Schauspieler/innen, die das Stück einer unentschlossenen Autorin in der Regie einer unentschlossenen Regisseurin spielen mussten?

Aber warum ging die Pointe nicht auf? Warum blieb das alles nur daher- und dahingesagt? Und warum feierte die Autorin ihren Abgang am Ende nicht wirklich im Sarg auf der Bühne, sondern spielte diese Szene nur in einem dazu eingeblendeten Film. Arthur war sehr unruhig bei diesen Gedankengängen. Andere Stücke gingen ihm durch den Kopf, Stücke, die er nie gesehen hatte, die nie gespielt wurden und wohl auch nie geschrieben worden waren. Eines etwa, in dem zwei Behinderte spielten, die sich gegenseitig – vom anderen jeweils unbeobachtet – grimassierten. Der eine Behinderte grimassierte den anderen und dieser den einen. Beide mochten sich und gingen oft miteinander auf Reisen, wie sie im Stück sagten. So saßen sie beide jeden Tag vor ihrer Morgentoilette und grimassierten sich gegenseitig, ohne dass der eine vom anderen davon wusste.  Sie grimassierten sich so gut, dass es nur so eine Freude gewesen wäre, ihnen dabei zuzusehen.  Aber es sah ihnen niemand zu, sie waren ja allein, nur das Publikum hätte ihnen dabei zugesehen. Sonst geschah nichts in dem Stück. Zumindest nichts von Bedeutung. Denn natürlich ging draußen der Föhn und man hörte Stimmen aus den Wohnungen darüber und darunter hörte man Kinderlärm, Streit und vielleicht auch Liebesgeräusche.

Und noch ein zweites Stück fiel Arthur ein. Ebenso minimalistisch als das erste: .Zwei Tischklammern verliebten sich ineinander, konnten sich aber nicht kriegen, weil sie ja an den jeweiligen Enden des Tisches mit dessen Platte fest verbunden waren.  Ein Mann saß am einen Ende des Tisches, zusammen  mit mehreren Personen. Und plötzlich verstummte der Mann und rührte auch nichts mehr an von den am Tisch stehenden Speisen und Getränken. Und als man ihn fragte, was denn los sei, warum er jetzt plötzlich so schweigsam geworden sei und nichts mehr esse von den vielen angebotenen Köstlichkeiten und nichts mehr trinke von den angebotenen Getränken, sagte er nur, dass er Angst haben würde vor den Tischtuchhalterfedern und dass das überhaupt  nichts mit ihnen, den Gastgebern, zu tun haben würde. Da entfernte die Dame des Hauses die Tischtuchhalterfedern, der Mann aß und trank wieder weiter und beteiligte sich auch wieder am Gespräch, und die beiden Tischtuchhalter lagen nun eng nebeneinander, und konnten so wohl zum ersten Mal in ihrem Leben voneinander geben und nehmen, völlig unbemerkt von der illustren Gästeschar,  Und alles weitere ging seinen gewohnten Gang.

So ein Stück hätte Arthur schreiben wollen, hätte er Zeit dafür gehabt. Einzig und allein, er hatte keine Zeit dafür. Dieses Stück aber, das er eben gesehen hatte, hatte nichts von alledem, kein Feuer, keinen Witz, keinen Eros, so als wäre seine Autorin bei der Arbeit eingeschlafen. So schien es zumindest Arthur, obwohl er laut und deutlich am Ende des Stückes Beifall geklatscht hatte, so wie alle anderen auch. Das tat er aber einzig und allein aus Höflichkeit den Schauspieler/innen gegenüber.

 

 

III

Der Bierschaum blieb an Arthurs Mundwinkeln haften. Das sollte er wohl nicht. Das war schlecht für den Abschiedskuss, den er Conny noch geben wollte,  die in die Südsee aufbrach für mehrere Monate, oder auch in die Sargasso-See, so genau wusste Arthur es nicht. Tauchen wollte sie, tauchen und nochmals tauchen, tief tauchen, sehr, sehr tief tauchen.  Und das konnte sie ja überall, wo es eben tief war. Auch im Stillen Ozean. Ja, dort wollte Conny ja auch hin, dort sollte das Meer ja am tiefsten sein. Und alles Weitere verschwieg sie ihm. Das konnte er sich selbst zusammendenken, so er wollte. So es ihn interessierte.

Arthur blieb auf seinem Stuhl vor dem leer getrunkenen Glas sitzen und hielt den Atem an. Wo Conny wohl blieb? War sie am Ende gar schon abgereist? Sie hatten doch ausgemacht, sich hier nochmal zu treffen. Wer wusste schon, wie lang sie fort war, wann sie wiederkam, oder ob sie überhaupt wiederkam! Vielleicht verliebte sie sich in einen Tauchlehrer und gründete mit ihm irgendwo auf einer Südseeinsel eine Familie, oder sie wurde von einem Hai oder sonst einem Meerungeheuer gefressen!

Nein, das wollte Arthur sich lieber nicht ausmalen! Er wollte, dass Conny eines Tages wiederkam. Und er die Fotos mit ihr sehen konnte, sie, die Taucherin im Neoprenanzug vor malerischer Kulisse und Sonnenuntergang. Und Arthur begann  ein Gedicht auf Conny zu schreiben. Conny wird die Fische hören, so begann es, und weiter … und mit der Stille sein in ihrer Taucherkugel /  und sich fallen lassen darin, so dass der Sauerstoff in ihre Lungenflügel stürzen  wird / und dort ihren Atem beschleunigen, Ich aber werde in den Wald gehen, bis mir die Bäume auf den Kopf fallen und / das Sägemehl in meine Schuhe. / Ich werde mir eine Suppe aus Blättern machen /  sie auslöffeln und ihre Bitterkeit über meine Gaumensegel / streichen lassen. Und ich werde ein Nacktmull sein / auf einer Ziege, die auf Menschen starrt, ein Esel, der / „ja, ja“ sagt, und fortläuft wie ein aufgezogenes Kamel.  Dann bestellte sich Arthur noch ein Bier, hielt Ausschau nach Conny, die nicht kam und nirgends war im Lokal. Ob sie noch kommen würde, er glaubte es kaum.

 

 

Helmut Schiestl – uibk

Helmut Schiestl – schoepfblog

 

Die Texte in diesem Beitrag sind urheberrechtlich geschützt und stammen von Helmut Schiestl und Claudia J.A. Lechner. Das Beitragsbild ist urheberrechtlich geschützt und stammt von Helmut Schiestl.

 


Kommentare

Eine Antwort zu „Helmut Schiestl . Leseprobe“

  1. Mir wurde eine Kommentar von Janus Zeitstein übermittelt, welches ich hiermit für euch teile:

    Der Splitter im Auge – Eine Betrachtung verborgener Schönheit und Gruß an den Autor
    In den feinen Zwischenräumen menschlicher Erfahrung verbirgt sich oft Poesie, die nur jenen offenbar wird, die mit der Seele zu sehen vermögen. In diesem Text wandert Arthur durch die Landschaften des Unausgesprochenen und erweist sich als solch ein Seher.
    Sein erstes Gespräch – eine zerbrechliche Brücke zwischen zwei Seelen – entsteht mit einer Frau, die eine Krebserkrankung durchlitten hat. Wo andere nur Narben und Verwundungen wahrnehmen würden, entdeckt Arthur eine strahlende Innerlichkeit. Ihre Schönheit pulsiert nicht in makellosen Konturen, sondern in der unverwüstlichen Kraft ihrer Präsenz. Jeder Blick scheint ein Gedicht, jede
    Bewegung eine Metapher für Widerstandsfähigkeit.

    Selbst die Kunst wird zum lebendigen Organismus in Arthurs Betrachtungen; ein Theaterstück zum Ausgangspunkt wilder Imaginationen – surreale Visionen tanzen da durch seinen Geist. Verliebte Tischtuchklammern, gefangen in der Unmöglichkeit ihrer Vereinigung, werden zum Sinnbild menschlicher Sehnsucht, und im schließlichen Beieinanderliegen finden wir ergreifende Poesie.

    Dann bricht da Conny auf zu einer Tauchreise und Arthur malt ein Abschiedsgedicht, das mehr von Gefühlen als von Worten lebt. Jede Silbe pulst wie ein Herzschlag, wie die Fragmente auf einer Landkarte unausgesprochener Gefühle. Der Abschied tanzt zwischen Nähe und Ferne, zwischen dem, was ist, und dem, was auch sein könnte. Die Sprache selbst gleitet dabei wie ein Pinsel zwischen Realität und Traum, zwischen präziser Beobachtung und traumartiger Abstraktion. Sätze brechen auf, schweifen umher, kehren zurück – genau wie die menschliche Wahrnehmung, die niemals geradlinig, sondern immer ein Gewebe aus Erinnerungen, Ahnungen und flüchtigen Momenten ist.
    In Arthur verdichtet sich eine universelle Sehnsucht: die Suche nach Bedeutung jenseits der Oberflächen. Arthur ist ein Poet des Unsichtbaren, Künstler der Zwischenräume. Seine Wahrnehmung ist wie ein Mikroskop der Seele, das die feinsten Nuancen menschlicher Existenz erschaubar macht.
    Die erwähnten Tischtuchklammern – ein Gleichnis! Getrennt und doch untrennbar, eine Bild von allen Liebenden, die durch unsichtbare Mauern isoliert werden. Sie vermögen einander nicht zu berühren und berühren schließlich doch alles. Ihre Liebe existiert in der Spannung zwischen Unmöglichkeit und Sehnsucht.
    Der ganze Text ist ein Besinnen über die Kunst des Sehens, des Fühlens und des Verstehens. Eine Einladung, die Welt mit anderen Augen zu betrachten – mit dem Splitter der das Auge des Betrachters zu einem Prisma macht, durch das die verborgenen Farben der Existenz neu wahrgenommen werden.

Schreibe einen Kommentar

Deine E-Mail-Adresse wird nicht veröffentlicht. Erforderliche Felder sind mit * markiert

Accessibility Toolbar